DER AKKUSATIV

Wenn man eine fremde Sprache lernt, muss man normalerweise viele der eigenen Sprachgewohnheiten aufgeben und sich völlig den fremden unterordnen. Dazu zählen auch Dinge wie die Frage, wo man direkte und indirekte Objekte im Satz unterbringt, an welcher Stelle sich das Verb befindet, ob die Adjektive vor oder hinter dem zugehörigen Substantiv anzuordnen sind, und dergleichen. Die eindeutigen Endungen und Funktionskennzeichen wie z.B. der immer zu erkennende Akkusativ erlauben Esperanto eine außergewöhnlich hohe Flexibilität in der Anordnung der Satzelemente. Die weitgehende "Etikettierung" der Wörter durch die Endungen erlaubt einerseits den Lernenden, manche ihrer sprachtypischen Anordnungsgewohnheiten beim Übersetzen ins Esperanto beizubehalten, und ermöglicht gleichzeitig anderssprachigen Esperantisten, sie trotzdem mühelos zu verstehen.

Die in Esperanto wie auch z.B. im Japanischen stets klare Kennzeichnung des Akkusativs (in Esperanto durch die Endung "-n") ist eine gute grammatische Übung für Deutsch- und Englisch-Sprecher, die sich dieses Falles oft nur undeutlich bewußt sind, da er im Deutschen nur bei einigen, nicht allen, Personalpronomen (ich/mich, du/dich, er/ihn, wir/uns, ihr/euch) sowie bei männlichen Wörtern in der Einzahl (der Hund/den Hund, ein Hund/einen Hund) angezeigt wird. Im Englischen wird der Akkusativ sogar nur bei einigen Personalpronomen angezeigt (I/me, he/him, she/her, we/us, they/them). Wegen seiner Formengleichheit mit dem Nominativ in allen anderen Fällen wird die Akkusativkennzeichnung von Esperanto-ungeübten Sprechern des Deutschen und des Englischen leicht mal vergessen - das Erlernen von Esperanto trainiert daher das Fälle-Bewußtsein, das beim Erlernen vieler anderer Sprachen gebraucht wird:

Die wichtigsten Fälle in Esperanto (bestimmte Form):

 NominativGenitivDativ AkkusativInstrumentalLokativ
Singular:la trajnode la trajnoal la trajno la trajnonper la trajnoen la trajno
Plural:la trajnojde la trajnojal la trajnoj la trajnojnper la trajnojen la trajnoj
la trajno = der Zug

Der wohl berühmteste aller Beispielsätze in Esperanto:

deutsch: ich   liebe   dich
Zerlegung:ichlieb- + -edu (Akkusativform)
Analyse:PronomenX(Verb) + Gegenwart/1.Person/SingularPronomen/Akkusativ
 ↓           ↓ ↓                 ↓
Konstruktion:PronomenX + "Gegenwart"Pronomen + "Akkusativ"
Synthese:miam - asvi - n
Esperanto:mi   amas   vin
Grammatisch korrekt und verständlich wären aber auch:
"mi vin amas", "amas mi vin", "amas vin mi", "vin amas mi", und "vin mi amas".

Ein paar der vielen Sprachen, die den Akkusativ in der Regel kennzeichnen:

  deutsch: esperanto: russisch: japanisch: türkisch: lateinisch: sanskrit: finnisch: hebräisch:
Nominativ: ein Freund amiko drug tomodachi arkadaş amicus mitra ystävä jedid
Akkusativ: einen Freund amikon druga tomodachi o arkadaşı amicum mitram ystävän et jedid
weitere Beispiele wären z.B. Polnisch, Ungarisch, Griechisch, Albanisch, Tschechisch, Litauisch, usw.


Schon zwanzig Jahre nach der Veröffentlichung von Esperanto gab es Menschen, denen unter Anderem die eindeutige und obligatorische Akkusativ-Kennzeichnung von Esperanto nicht gefiel, so dass sie damit begannen, "verbesserte" Esperanto-Versionen zu erfinden, wie z.B. das "Ido". Das Abschaffen oder auch nur Einschränken der Akkusativ-Kennzeichnung setzt aber automatisch eine besondere Position des direkten Objekts voraus und fixiert oder begünstigt damit die besonders für Sprachen wie Englisch und Chinesisch typische Reihenfolge S-P-O (Subjekt-Prädikat-Objekt) - und benachteiligt damit alle Sprecher von Muttersprachen mit S-O-P oder noch anderen Reihenfolgen. Das widerspricht aber der Idee einer universellen Sprache für die ganze Menschheit. Wie die Geschichte gezeigt hat, sind alle diese Verschlimmbesserungsversuche von Esperanto nicht dauerhaft angenommen worden: seit mehr als 100 Jahren konnte sich und kann sich bis heute nur die Plansprache Esperanto einer Fan-Gemeinde erfreuen, die sich in Millionen misst - und jetzt im Zeitalter des Internet begonnen hat, stetig weiter zu wachsen.