FLEXIBILITÄT DES AUSDRUCKS

Der Wortschatz von Esperanto kann als aus zwei Teilen bestehend gesehen werden: die Wörter des einen Teils dürfen auch ohne angehängte Endung verwendet werden (dabei handelt es sich um die ca. 150 "Strukturwörter" der folgenden Liste, sowie um nicht-esperantisierte Eigennamen). Der andere Teil besteht aus allen übrigen Wörtern, und jedes einzelne davon muss mindestens mit einer Endung zur eindeutigen Kennzeichnung der Wortart versehen werden, diese kann nur an den inneren Wortfugen einer Wortzusammensetzung entfallen, sofern ihre Bedeutung dort auch ohne diese (innere) Endung deutlich wird.

Und zwar kennzeichnet die Endung -o ein Substantiv, -a ein Adjektiv, -e ein Adverb, und für Verben gibt es -i (Infinitiv), -u (Volitiv und Befehlsform), -as (Gegenwart), -is (Vergangenheit), -os (Zukunft), -us (Konditional). Substantive sind in Esperanto immer geschlechtslos. Für Substantive und Adjektive gibt es eine eindeutige Pluralform mit zusätzlich -j und einen Objektfall (Akkusativ) mit zusätzlich -n, diese Endungen sind auch miteinander kombinierbar. Die Endung -n dient auch der Angabe von Zeitpunkt oder Richtung; in letzterer Funktion kann sie auch auf Ortsadverbien angewendet werden. Genitiv und Dativ werden dagegen mit Hilfe der Präpositionen de und al gebildet: z.B. "de la hundo" (des Hundes), "al la hundo" (dem Hund).

Esperanto erreicht durch diese Technik der die Grammatik konsequent erhellenden Endsilben eine in keiner anderen mir bekannten Sprache vergleichbare Flexibilität bezüglich der Art und Weise, wie man sich ausdrücken kann.

Hier erst mal die Liste der endungslos verwendbaren Wörtchen:

Pronomen: mi ich, ci du (alt), li er, ŝi sie, ĝi es, ni wir, vi ihr/du/Sie, ili sie, oni man, si (reflexiv)
Zahlwörter: nul null, unu eins, du zwei, tri drei, kvar vier, kvin fünf, ses sechs, sep sieben, ok acht, naŭ neun, dek zehn, cent hundert, mil tausend, ambaŭ beide
Tabellwörter: SACHE EIGENSCHAFT ORT PERSON, IDENTITÄT GRUND ZEIT ART UND WEISE BESITZ MENGE
kio
was
kia
was für ein ...
kie
wo
kiu
wer, welches
kial
warum
kiam
wann
kiel
wie
kies
wessen
kiom
wieviel
tio
dies
tia
solch ein ...
tie
dort
tiu
dieser, dies
tial
darum
tiam
zu dieser Zeit
tiel
so
ties
dessen
tiom
so viel
io
etwas
ia
irgendeine Art von ...
ie
irgendwo
iu
jemand, etwas
ial
aus irgendeinem Grund
iam
irgendwann
iel
irgendwie
ies
jemandes
iom
irgendeine Menge
ĉio
alles
ĉia
alle Arten von ...
ĉie
überall
ĉiu
jeder, jedes
ĉial
aus allen Gründen
ĉiam
immer
ĉiel
auf jegliche Art
ĉies
aller
ĉiom
die gesamte Menge
nenio
nichts
nenia
keine Art von ...
nenie
nirgendwo
neniu
niemand, nichts
nenial
aus keinem Grund
neniam
niemals
neniel
auf keine Art
nenies
niemandes
neniom
keine Menge/nichts
übrige,
das sind die
Präpositionen,
einige Modal-
adverbien,
Interjektionen,
etc.
adiaŭ adieu, ajn irgend ..., al zu, almenaŭ wenigstens, ankaŭ auch, ankoraŭ noch, anstataŭ anstatt, antaŭ vor, apenaŭ beinahe, apud neben, oder, baldaŭ bald, ĉar weil, ĉe bei, ĉi (näherliegend), ĉirkaŭ etwa/um...herum, ĉu ob, da (Partitiv), de von, des desto, do also, dum während, sogar, ek! los!, ekde seit/ab, ekster außerhalb, el [heraus] aus, en in, fi pfui, for weg/fort/hinaus, fri frei [Haus], ĝis bis/tschüss, hieraŭ gestern, hodiaŭ heute, inter zwischen, ja ja (bekräftigend), jam bereits, je um, jen da/voilą, jes ja, ju je...[desto], ĵus gerade eben, kaj und/sowohl/als auch, ke dass, kontraŭ gegen, krom außer, kun mit, kvankam obwohl, kvazaŭ gleichsam, la der/die/das, laŭ gemäß, malgraŭ trotz, mem selbst, minus minus, morgaŭ morgen, ne nicht/nein, nek weder/noch, nu na, nun nun, nur nur, ol [mehr] als, per per/mittels/durch, plej am meisten, pli mehr, plu [nicht] mehr, plus plus, po zu je, por für, post nach, preskaŭ beinahe, preter an...vorbei, pri über (ein Thema), pro wegen, sed aber, sen ohne, sub unter, super über (räumlich), sur auf, tamen dennoch, tra durch, trans trans, tre sehr, tro zu [sehr], tuj sofort
Durch Austausch der Endung kann in Esperanto die Wortart beliebig angepasst werden, was in anderen Sprachen nur teilweise möglich ist, da sich sonst merkwürdige oder unverständliche Formen einstellen. Nehmen wir zum Beispiel das Wort "trajno" (Zug):

Flexible Anpassung der Wortart in Esperanto:

trajno(Substantiv): Mi veturas per trajno al Munkeno.= Ich fahre mit dem Zug nach München.
trajne(Adverb): Mi veturas trajne al Munkeno.= Ich fahre "zugerweise"(?) nach München.
trajn- (Wortzusammensetzung): Mi trajnveturas al Munkeno.= Ich "zugfahre"(?) nach München.
trajnas(Gegenwartsform des Verbs): Mi trajnas al Munkeno.= Ich "zuge"(?) nach München.
trajnis(Vergangenheitsform des Verbs): Mi trajnis al Munkeno.= Ich "zugte"(?) nach München.
trajnos(Zukunftsform des Verbs): Mi trajnos al Munkeno.= Ich "werde" nach München "zugen"(?).
trajnus(Konditionalform des Verbs): Mi trajnus al Munkeno.= Ich "würde" nach München "zugen"(?).
trajni(Infinitiv des Verbs): Mi volas trajni al Munkeno.= Ich möchte nach München "zugen"(?).
trajna(Adjektiv): Kia bela trajna vojaĝo!= Was für eine schöne "zugische"(?) Fahrt!
Anstelle von "al Munkeno" kann auch der Richtungs-Akkusativ "Munkenon" eingesetzt werden.

Das obige Beispiel soll exemplarisch aufzeigen, dass man sich in Esperanto auf viel mehr Arten ausdrücken kann als auf deutsch, und außerdem, dass man sich beim Übersetzen ins Esperanto an die in der eigenen Muttersprache oder einer anderen Quellsprache gebräuchliche Ausdrucksweise flexibler anlehnen kann als in jeder anderen Sprache.