PRÄZISION DER ZEIT- UND MODALFORMEN

In Esperanto werden drei Zeitstufen unterschieden, d.h. wir können über die Vergangenheit, die Gegenwart, oder die Zukunft sprechen. Alle anderen "Zeitformen" betreffen nicht die Zeitstufe, sondern sind Zeitaspekte: damit wird ausgedrückt, ob wir von dem Zeitpunkt aus, über den wir gerade sprechen, nach rückwärts blicken, das Geschehen also schon passiert ist (perfektiver Aspekt), oder ob das Geschehen gerade vor unseren Augen abläuft (Verlaufsaspekt), oder ob das Geschehen unmittelbar bzw. in Kürze bevorsteht, oder von uns erwartet wird (Futur-Aspekt).

Für die drei Zeitstufen verwendet Esperanto die Verb-Endungen -is (Vergangenheit), -as (Gegenwart), und -os (Zukunft). Für die Zeitaspekte benutzt Esperanto Partizipien, diese werden aus dem Verbstamm durch Anhängen einer besonderen Endung gebildet, und zwar: -inta (Partizip des Vergangenen: perfektiver Aspekt), -anta (Partizip der Gegenwart: Aspekt des gegenwärtigen Verlaufs), -onta (Partizip Futur: vorwärtsblickender bzw. Futur-Aspekt). Das -a am Ende der Partizipien signalisiert ihre adjektivische Natur. Anders als im Deutschen, wo als Hilfsverb mal "sein" und mal "haben" eingesetzt wird, ist es in Esperanto immer das Hilfsverb "esti" (sein), das zum Einsatz kommt - sofern es überhaupt zum Einsatz kommt: gemäß den Grammatikregeln von Esperanto darf anstelle von "adjektivischem Partizip plus Hilfsverb esti" nämlich auch die kompaktere Variante "Partizip plus Verbalendung" benutzt werden - was Europäer zwar oft vermeiden, aber Sprechern diverser agglutinierender Sprachen entgegenkommt.

Zeitbezogene Formen des Verbs "manĝi" (essen) im Aktiv

mi manĝisich aß
mi estis manĝintaich hatte gegessen
mi estis manĝantaich war gerade beim Essen
mi estis manĝontaich hatte gerade vor zu essen
mi manĝasich esse
mi estas manĝintaich habe gegessen
mi estas manĝantaich bin gerade beim Essen
mi estas manĝontaich habe vor zu essen
mi manĝosich werde essen
mi estos manĝintaich werde gegessen haben
mi estos manĝantaich werde gerade beim Essen sein
mi estos manĝontaich werde vorhaben zu essen
Die Kompaktversion von z.B. "mi estis manĝinta" (ich hatte gegessen) ist "mi manĝintis",
die meisten (vor allem die europäischen) Esperantosprecher ziehen jedoch die längere Variante vor.

Auch ganz andere Aspekte können in Esperanto ausgedrückt werden: z.B. kann der "Beginn einer Handlung" besonders hervorgehoben werden durch das Präfix ek-: "ekmanĝi" bedeutet "anfangen zu essen", während der "zielgerichtete Aspekt" durch das Präfix fin- ausgedrückt wird: "finmanĝi" bedeutet "zu Ende essen, aufessen". Wofür manche Sprachen spezielle Verbformen ausgebildet haben, reicht in Esperanto oft ein einfaches Wortbildungssuffix. So kann z.B. ein länger verlaufendes Geschehen durch die Nachsilbe -ad- verdeutlicht werden: "manĝadi" bedeutet "anhaltend/lange essen". "Würdig sein" oder "wert sein" wird durch die Nachsilbe -ind- angezeigt, z.B. wird so aus "laŭdi" (loben) das Adjektiv "laŭdinda" (lobenswert). Wenn es dagegen um "müssen" geht, kann (anstelle des lateinischen a.c.i.) die Nachsilbe -end- verwendet werden, z.B. kann man so aus "pagi" (zahlen) "pagenda" bilden - "muss gezahlt werden".

Die persönlichen Fürwörter bzw. Personalpronomen in Esperanto:
mivili, ŝi, ĝi, oni niviili
ichduer, sie, es, man wirihrsie

Siehe die folgenden Beispiele:

Zusätzliche Aspekte und Modalitäten:

mi ekmanĝasich beginne zu essen
ŝi finmanĝos la kukonsie wird den Kuchen aufessen
li manĝadis dum du horojer aß zwei Stunden lang (= während zweier Stunden)
tiu kuko estas manĝindadieser Kuchen ist essenswert
tiu kuko manĝindasdieser Kuchen ist essenswert [kompakte Version]
tiu kuko estas manĝendadieser Kuchen muss gegessen werden
tiu kuko manĝendasdieser Kuchen muss gegessen werden [kompakte Version]
Kartago estas detruendaKarthago muss zerstört werden ("Carthaginem esse delendam")

Man kann in Esperanto aber natürlich auch wie im Deutschen Modalitätsverben benutzen, und davon besitzt Esperanto besonders viele: nicht nur "devi" (müssen), "voli" (wollen), "povi" (können), "deziri" (wünschen), "postuli" (fordern), "ŝati" (schätzen), "intenci" (beabsichtigen), "bezoni" (benötigen) usw., sondern auch z.B. "deci" (schicklich sein), "rajti" (berechtigt sein), "akceptebli" (akzeptabel sein), "necesi" (nötig sein), "kapabli" (fähig sein zu), bis hin zu "esti permesata" (dürfen, erlaubt sein), was auch zu "permesati" zusammengefasst werden kann - siehe die jetzt folgenden Passivformen.

Zur Bildung der Passivformen stehen drei weitere Partizipien zur Verfügung, nämlich -ita (Aspekt des Vergangenen), -ata (Aspekt des Gegenwärtigen), und -ota (Aspekt des Zukünftigen): auch diese werden mit dem Hilfsverb "esti" verwendet, z.B. bedeutet "mi estas vidata" ("vidi" = sehen) auf deutsch "ich werde gesehen". Und "mi estis vidata" beschreibt die Vergangenheit und besagt "ich wurde gesehen", während "mi estas vidita" die Gegenwart beschreibt und "ich bin gesehen worden" ausdrückt ... klar?
Die beiden letzteren Beispiele lauten in der Kompaktversion "mi vidatis" und "mi viditas".

Für den Ausdruck von Bedingungen (Konditional) nach Art von "wenn ich Geld hätte, wäre ich glücklich" verwendet Esperanto die Verb-Endung -us, also: "se mi havus monon, mi estus feliĉa" (oder: "... mi feliĉus"). Die entsprechende Vergangenheitsversion lautet dann: "se mi estus havinta monon, mi estus estinta feliĉa" - wenn ich Geld gehabt hätte, wäre ich glücklich gewesen". Und als "Kompaktversion": "se mi havintus monon, mi feliĉintus".

Für Befehle gibt es in Esperanto die Endung -u (ohne Personalpronomen), z.B. "venu!" bedeutet "komm!" oder "kommt!".
Zusammen mit einem explizit genannten Personalpronomen entspricht es aber eher einem romanischen Konjunktiv bzw. "Volitiv" und drückt eine Aufforderung bzw. "sollen" aus:

Anwendung der Volitiv-Endung -u:

manĝu!iss!, esst!
ŝi esperas ke li manĝusie hofft, dass er essen möge
ni manĝu!lasst uns essen!
li venuer soll kommen
kion mi faru?was soll ich machen?
mi ne scias, kion mi faruich weiß nicht, was ich machen soll

Diese kurze Darstellung der Möglichkeiten, die Esperantosprechern bei Verben zur Verfügung stehen, soll aufzeigen, dass man sich in Esperanto sowohl zeitlich als auch modal überaus präzise ausdrücken kann, was keineswegs nicht nur anspruchsvollen Übersetzungsvorhaben, sondern auch der alltäglichen Kommunikation im realen Leben zugute kommt. Überdies verbessert das Beherrschen der vielen logisch zusammengesetzten Zeit- und Modalformen von Esperanto den grammatischen Durchblick auch in anderen Fremdsprachen ungemein!

Ja durch die Beschäftigung mit den unerhörten Möglichkeiten der Esperanto-Grammatik - und zwar ungetrübt durch die in den "natürlichen" Sprachen üblichen unregelmäßigen Verben, Ausnahmen, Sonderfällen und sinnlosen Formenvielfalten - hat schon so mancher, der sich das vorher nicht hätte vorstellen können, angefangen, an der Beschäftigung mit Grammatik Spass zu haben ...

Und dafür muss man nicht mal viel lernen, denn jede Verbform ist für alle Personen (ich, du, er, sie, es, wir, ihr, sie) gleich - und die Bildung der Zeit- und Modalformen wiederum ist für alle Verben gleich ... sobald man alle Formen eines einzigen Verbs gelernt hat, kann man durch einfaches Ersetzen des Wortstammes durch den Wortstamm eines anderen Verbs sämtliche Formen auch des anderen Verbs korrekt bilden!